Verlust des Zeugen: Das lebendige Werk

Dieser Beitrag widmet sich nicht dem, was bislang gemeinhin unter Medienkunst verstanden wird: Arbeiten, die Material und Immaterial verbinden, digital-elementare Zwitter, die Videoskulptur in ihrer typischen Erscheinung, welche in den letzten Jahren so renommierte Vertreter wie Bill Viola, Gary Hill, Bruce Nauman, Nam June Paik oder Marie Jo Lafontaine hervorbrachte. Die Aufmerksamkeit soll hier auf avancierte Computerkunst, speziell Werke der Virtuellen Realität, fokussiert werden.

Meine Forschung gilt der Geschichte und Theorie der Virtuellen Realität: Ein ästhetisches Konzept, dessen Traditionsbogen von immersiven Kultfresken Pompejis über totale Freskenräume aus Gotik, Renaissance, Barock und anderen Epochen bis in die jüngste Gegenwart weist Bildliche Illusionsräume, die nicht nach Art eines Freskenzyklus eine Abfolge von sukzessiven Szenen bieten, sondern den Betrachter zu 360° in eine zeit- und ortseinheitliche Darstellung integrieren, mithin eine artifizielle Welt formulieren.

Die Idee, den Betrachter ins Bild zu versetzen, Mensch und Bild miteinander zu verschmelzen, deren Medien-Archäologie sich weiterhin in Namen wie dem Panorama — dem Bild-Massenmedium des 19. Jahrhunderts —, Stereoskop, Cineorama, Stereopticon, Stereoptic Television, Sensorama, Rund-, 3-D- oder Imax-Kino verkörpert, brachte als jüngste Spielart die Virtuelle Realität des Computers hervor. Erst mit der militärischen Erfindung des Head Mounted Display [1] der stereoskopischen Datenprojektion auf zwei Monitore, erschien das Bild zum ersten Mal in seiner Geschichte ‘begehbar’; durch stete Neuberechnung transformierbar, eröffnete es die Option einer variablen Reaktion auf die Aktionen der Betrachter, die Interaktion. Damit wurde die Illusion eines sich verändernden Raumbildes möglich und das Suggestionspotential des Bildes auf bislang ungekannter Ebene neu definiert.

Wenngleich der Entwicklungsstand der Virtuellen Realität heute etwa mit dem Film zu Beginn unseres Jahrhunderts verglichen werden kann, so scheint diese Bildtechnik doch bereits auf dem Weg, die digitale Ausgabe jenes uralten Illusionskonzeptes für die aufziehende Informationsgesellschaft zu werden [2].

Ausgehend von drei Hauptwerken dieses Genres werde ich versuchen, Konsequenzen für das Kunstwerk als Gedächtnismedium zu sondieren, welche aus der Verschmelzung von Kunst und Technik unter den Konditionen der Virtuellen Realität erwachsen. An Hochtechnologiezentren in Japan, Kanada und der Bundesrepublik entwickelt, handelt es sich sowohl um konzeptionell umfassende als auch technologisch anspruchsvolle Werke.

Die Kunst des Interface

1995 entstand mit Osmose die zur Zeit avancierteste Installation der Virtuellen Realität — eine millionenteure, visuell mächtige Simulation von nicht weniger als einem Dutzend umfangreich verzweigter Natur- und Texträume — der State of the Art dieses neuen Genres der Computerkunst. Im Gegensatz zu den herkömmlichen, recht grobschlächtigen Bildern kantig-zitternder Polygon-Ästhetik erblickt man im Datenraum der 42jährigen Kanadierin Char Davies phosphoreszierende Lichtpunkte — wie im Weichzeichner —, aus dem Dunkel aufglimmend.

Char Davies, Tree Pond, from Osmose, 1995
Abb. 1: Char Davies, Tree Pond, from Osmose, Softimage 1995
[Digital frame captured in real-time through head-mounted display during live immersive journey/performance.]

Einsam und schwerelos wie ein Taucher gleitet der Betrachter durch virtuelle Szenarien: abgründig-ozeanische Wassertiefen, flirrende Schwaden opaker Nebelbänke, vorbei an matt leuchtendem Tau, luziden Scharen errechneter Insekten und dem Dickicht dunklen Waldes. Sanft und fließend verlaufen die Übergänge zwischen den Welten. Die Stereomonitore unmittelbar vor den Augen, gelangt man unter die Erde, plastisch erscheinen Gestein und Wurzelwerk, und schließlich gar in den Mikrokosmos eines opalschimmernden Ahornblattes...

Im Zentrum dieses Datenraums steht auf einer Lichtung repräsentativ und isoliert ein blattloser Baum. Kristallin schimmern Stamm und Astwerk. Alles, bis ins Innere hinein, ist transparent un[d permeabel. Osmose ist eine mineralisch feste und zugleich fluide, ungreifbare Sphäre, ein nicht-cartesianischer Raum. Der Baum — in nahezu jeder Mythologie Symbol für Leben, Fruchtbarkeit und Regeneration —, dessen Ikonographie durch alle Kulturen und Epochen verfolgt werden kann, erwächst nunmehr als virtueller Weltenbaum.

Zwei Textwelten begleiten das Natursimulakrum: Einerseits 20000 Zeilen Programmcode, die das Werk zeugen und in der künstlichen Welt, zu kolossalen Säulen geordnet, zu besichtigen sind. Auf der anderen Seite ein Raum, angefüllt mit Textfragmenten zu den Begriffen Natur, Technik und Körper. Mit Bachelard, Heidegger und Rilke stammen diese jedoch durchweg von Denkern, die von der jüngsten revolutionären Entwicklung um das Bild unberührt sind.

Brisant ist vor allem Davies' Anliegen, ein natürliches Interface zu entwickeln. Der Betrachter, den die Künstlerin gern als ‘Eintauchenden’ bezeichnet, kontrolliert die Navigation durch den Datenraum anhand eines leichten, mit Sensoren gefütterten Brustharnischs aus schwarzem Leder, der vor jeder Reise ins Virtuelle angelegt werden muß und der die Körperatmung sowie jede reale Bewegung an die Software vermeldet.[3] Die entsprechende virtuelle Optik, die den Schein von Bewegung im Bildraum bewirkt, folgt dann unmittelbar, 30mal pro Sekunde, in Echtzeit. Der bereits durch die Totalität des Bildes vermittelte Eindruck, im Bild zu sein, wird hiermit noch verstärkt. Ganz wie beim Tauchen steigt man mit gefüllten Lungen aufwärts; konzentriertes, gleichmäßiges Atmen dagegen führt zu einer ruhigen Balance.

Abb. 2: Char Davies, Subterranean Eart, from Osmose, 1995
Abb. 2: Char Davies, Subterranean Eart, from Osmose, Softimage 1995
[Digital frame captured in real-time through head-mounted display during live immersive journey/performance.]

Taucher kennen das Empfinden der Immersion, der vollständigen Umhüllung und Körpererfahrung, die vom seichten Gleiten im liquiden Element ausgeht. Der passionierten Taucherin Davies kam die Eingebung zu dieser fein tarierten, körperintimen Synthese aus Technik und Organik unter Wasser. Resultat ist ein erstaunliches Gefühl leiblicher Präsenz, die im Verlauf des ‘Aufenthalts’ eine entsprechende emotionale Gestimmtheit bewirkt. Viele Teilnehmer sprachen von ‘kontemplativmeditativer Ruhe’, ‘faszinierender, erhabener Tiefe’ und ‘milder Geborgenheit’. Durchstöbert man die entsprechenden Diskussions-Listen im Internet, so findet sich dieser Eindruck fast durchweg bestätigt. Mancher Teilnehmer bezeugte gar, an ein tranceartiges Befinden herangeführt worden zu sein. Mag dieses Vokabular an esoterische Rhetorik erinnern, es spiegelt den Zentraleffekt der Virtuellen Realität: Die suggestive Anwesenheit in einem totalen Bild ruft eine mentale, bei Osmose meditative Versenkung hervor. Diese überzeugende Umsetzung der Idee ‘Virtuelle Realität’ ist die Stärke der Arbeit, nährt jedoch gleichermaßen düstere Ahnungen zur künftigen Steuerung der Betrachteraffekte via Bild. Wenn auch technisches Illusionsbild, suggeriert Osmose eine optische Atmosphäre. Dennoch zielt die Künstlerin nicht darauf, Natur zu ersetzen. Ihre vegetabilen Repräsentationen streifen nicht die Chimäre eines digitalen Realismus, erscheinen auch nicht abstrakt. In einem digitalen Baum wird der biologische Vorgang der Osmose mystifiziert und auratisiert, eine amalgame Verbindung mit den technischen Bildern inszeniert. Der alte Künstlertrick sfumato, die Unschärfe, ist es, die das Auge täuscht und facettenreiche Assoziationen eröffnet.

Die Illusion entsteigt den mächtigen Speichern dreier Silicon-Grafics-Onyx-Workstations, dem Rolls-Royce der Hardware — Rechnern, die üblicherweise für militärische Simulationen oder Spielfilmsequenzen eingesetzt werden; Kosten: weit über 1 Mio. US-Dollar. Die sehr großen Mengen än Programmcode ermöglichen das Ablesen der Bewegungssensoren, die Echtzeitberechnung der Bildkörper sowie die Kontrolle der räumlich-atmosphärischen Klangornamente, die der Komponist Rick Bidlack aus zwei ‘gesampelten’ menschlichen Stimmen sinfonisch arrangierte. Der gesamte Projektaufwand blieb trotzdem überschaubar. Wo sonst für Virtual-Reality-Kunst zehn Programmierer gleichzeitig wirken, waren bei Osmose nur drei Personen ein halbes Jahr lang mit Entwurf, Programm und Berechnung beschäftigt.

Char Davies begann ihre Laufbahn als Malerin und Filmemacherin. 1987 verschrieb sie sich der visuellen Seite des Computers und trat in die gerade drei Mitarbeiter zählende Garagenfirma Softimage in Montreal ein. 1994 waren es bereits zweihundert Mitarbeiter, und spätestens als ihre Programme den Sauriern des Jurassic Park das Leben einhauchten, erlebten die Pioniere weltweites Erstaunen. Prompt erwarb der Softwareriese Microsoft dieses Unternehmen für 130 Mio. US-Dollar. Ein strategischer Kauf, der stringent jener Vision von Bill Gates folgt, die in der Verbindung von stark beschleunigtem Internet und Virtual Reality die Infrastruktur der Zukunft erkennt. Bei Microsoft bekleidete Davies dann die privilegierte Position einer Künstlerischen Direktorin. Auf das engste mit der schönen neuen Welt des technischen Bildes verwoben, arbeitete sie als eine der treibenden Kräfte an der kreativen Weiterentwicklung hochkomplexer Grafikprogramme.

[...]

Das Gedächtnismedium Kunstwerk: Folgen

Stets war der Werkbegriff historischem Wandel unterworfen. Die jeweils favorisierten, zum Paradigma erhobenen Werkkonzeptionen wechselten. Was zum Kunstwerk erklärt und damit der Erinnerung für wert befunden wird, unterliegt — dies hat bereits Maurice Halbwachs gezeigt[20] — den Konstruktionen sozialer Gruppen. Das Werk symbolisiert und fokussiert die künstlerische Auffassung von Welt: Es fixiert — bei allen gattungsspezifischen Differenzen — Konzept, Ideologie und Hypothese, ästhetische Präferenzen sowie Normungen und folgt — bewußt oder unbewußt — gesellschaftlichen Konstellationen.

Hegels Ideal vom Werk als vollendete, geschlossene Einheit, als autonomes Original, das die sinnliche Erscheinungsform der Wahrheit repräsentiere, als "seelenvolle Einheit des Organischen", ja als Welt in sich, als Mikrokosmos, als Analogon zum Weltganzen, hat bereits im 18. Jahrhundert eindrucksvoll sein gesellschaftlich-ideologisches Pendant gefunden, den urheberrechtlich geschützten Gegenstand.[21]

Und noch Deweys Kennzeichnung einer Loslösung des Werkes aus "den menschlichen Gegebenheiten, aus denen heraus es entstand" ("the human conditions under which it was brought into being")[22], bestätigt die zwingende Verkettung von Autor und Werk, welcher sich in dieses einschreibt und dessen individuelle Gestalt garantiert.

Die Krise des Werkbegriffs ist Signum der Kunstentwicklung unseres Jahrhunderts. Der avantgardistische Angriff auf das Werk revoltierte am nachhaltigsten gegen die Konzeptionen von Originalität, Identität, Autorität und Zweckfreiheit und zielte auf die Überwindung jener Dichotomie von Kunst und Leben, auf eine ästhetische Veränderung der Lebenspraxis.

Spätestens mit Aktionskunst, Performance und Happening seit den fünfziger und sechziger Jahren erfuhr das Werk als zwingend geschlossene Instanz nachhaltige Brüche. Im ephemären Austausch mit dem Publikum suchte man nicht zuletzt Widerspruch, Mehrdeutigkeit und Zufall in das Werk einfließen zu lassen. Ausdruck dieser hohen Erwartung an den Pluralismus, an die "Virtualität möglicher Ordnungen", war Ecos Schrift zum offenen Kunstwerk.

Die Entwicklung kybernetischer Steuerungsprozesse seit Mitte dieses Jahrhunderts begründete schließlich die Interaktion mit dem Computer und ermöglichte die Auflösung des autorbestimmten Werkes.[23]

Von Werkkonzepten, die daran orientiert sind, einer Idee die existentielle Form für einen zeitlichen Abschnitt im Raum zu sichern, divergiert die ontologische Erscheinung des Virtual-Reality-Werkes jedoch kategorisch: Erst durch die serielle Echtzeitberechnung erreichen die flüchtigen, in Sekundenbruchteilen vergehenden Bildräume den Effekt des Bestehenden. Über die Zwischenglieder ‘Programm’ und ‘Datenbrille’ konstituiert das Bild seine räumliche Wirkung erst im Kortex[24] und verläßt seinen Träger folglich in doppelter Hinsicht Für Virtual-Reality-Bilder, die mit gegenwärtig entwickelten Laserscannern direkt auf die Retina gestrahlt werden,[25] entfiele — soll die Retina bereits als Träger genügen — nicht die Kategorie ‘Bild’ per se, doch entsteht die ‘privateste’ aller vorstellbaren Formen von Bild.

Die Konstitution des Werkes über Lichtphotonen bedeutet seine fortwährende Immaterialisation.[26] Diese Immaterialisierung ist jedoch Voraussetzung für die größtmögliche Variabilität des Bildes und begründet die Interaktion. Entsprechend wird das Werk in jüngster Zeit immer stärker in seiner Prozessualität aufgefaßt, die Unabgeschlossenheit betont und Kunst in ihren kommunikativen gesellschaftlichen Beziehungen verortet In Anknüpfung an Schillers Gedanken zum Spiel[27] und Huizingas Essay über den Homo Ludens,[28] wird in der Debatte um die Ästhetik der Virtuellen Realität vor allem im ehemals ‘passiven’ Betrachter die Instanz erblickt, von der künftig das Kunstmoment erzeugt werde.[29] Im Systemrahmen der verfügbaren Freiheitsgrade kann der Betrachter spielerisch Veränderungen durchführen. Je stärker die Freiheitsgrade quantitativ und qualitativ zunehmen, desto manifester verschiebt sich das Verhältnis künstlerischer Anteile vom Künstler in Richtung Spieler. Peter Weibel zog daraus den vorschnellen Schluß einer ‘Emanzipation’ des Betrachters durch Interaktion.

In einem fortgeschrittenen Stadium könnte diese Kunst Feinheiten menschlicher Motive ermöglichen. Offene Systemgestaltung könnte den Spieler an der Schaffung des Werkes intensiv beteiligen, subtil abgestimmte Äußerungen gewähren und so eine ernstzunehmende Gemeinschaftskultur hervorbringen. Eine Kultur des Spiels, weg vom auratisch verehrten, normativen Faktum Werk, hin zu einem Momentwerk, welches sich aus den autopoietischen Komponenten seiner Teilnehmer zusammenfügt.

Zwingend führt der Spielgedanke jedoch zur Formulierung und Herausbildung einer Spielerkompetenz.[31] Hier wäre dann auch der Ansatzpunkt für eine Exponierung des Spiels: Erst der virtuose Spieler, der sich zwischen der Beschränkung des Regelwerks und der Offenheit der Freiheitsgrade bewegt, vermag durch unnachahmliche Interpretation bzw. Kreation das Spiel für Außenstehende attraktiv zu machen. Er macht dieses Spiel zu einem unverwechselbaren Original.

Ein populär verbreiteter Spielgedanke als konstitutives Moment von Kunst führt jedoch zur öffentlichen Herausstellung befähigter Spielerkünstler. Ein Mechanismus, der etwa der populären Musik oder dem Film den Starkult einbrachte, d. h. das Ideenkonzept der Aura, erhielte zumindest temporär neue Nahrung. Der Markt würde im Netz finanzielle Zugriffssysteme installieren und die idealisierte Demokratisierung einer Kunst ohne Autor in eine Oligarchie von Konstrukteuren virtueller Instrumente und virtuoser Spieler übergehen.

Im Spiel realisiert sich die Sehnsucht des Alltags zwar in unvergleichlich kurzer Zeit, objektiv bleibt der Mensch jedoch an jene Bedingungen, welche ihn zum Spieler machen, gebunden. Es tröstet nur der Schein von Freiheit. Noch dazu droht die Beherrschung durch den Rausch des Unmittelbaren. Psychobiologische Tests haben gezeigt: Je intensiver ein Teilnehmer in einer Virtuellen Realität interaktiv und emotional involviert ist, desto weniger wird die berechnete Welt als Konstrukt und desto eher wird sie als persönliche Erfahrung aufgefaßt. Das technische High werde durch die Ausschüttung von Endorphinen verursacht.

Materiebilder aller Epochen dienten als Kristallisationspunkte der an sie herangetragenen Erinnerung, ob Grabsteine, Medaillen, Gemälde, Fundstücke aller Art — selbst der Film. Zwar wandelt sich Erinnerung, ist dem Erkenntnisstand der Epoche und der betreffenden Gesellschaft, der sozialen Gruppe unterworfen, ob dominant oder domestiziert, nur als soziales Gedächtnis der Menschheit jedoch erlangt vergangene wie gegenwärtige Kunst lebendige, aufklärerische Stärke.

Erst im fixierten Werk können Ideen und Konzepte für Gegenwart und spätere Zeiten konserviert werden und interpretierbare Aussagen des Menschen oder einer Epoche wahren. Die mit der Spieltheorie über die ‘Grade der Freiheit’ postulierte Offenheit des Werkes bedeutet im Kern den Verlust der historischen Zeugenschaft des Bildes. Diese weicht einem überdauernden technischen Systemrahmen und einer beliebigen, im nachhinein nicht zu verfolgenden Manipulationsmöglichkeit am Bild. Das abgeschlossene Gesamtwerk geht verloren.

Sicher, der Computer ist — solange das Betriebssystem nicht veraltet — der Informationsspeicher schlechthin. Mit den sinnlichen Präsenzen eines stofflichen Werkes vermag er es jedoch nicht aufzunehmen, und bei weitgehender Beliebigkeit von Spiel und Interaktion sind es die genannten Eigenschaften materiebasierender Kunst, welche das Werk als Gedächtnismedium qualifizieren.[32]

Zur Problematik der Prozessualität tritt die Frage des Illusionismus. Je ausgeprägter die Information des Bildes und je umfassender die Freiheitsgrade des Betrachters gegenüber dem Werk, desto intensiver dessen Illusionskraft. Um den Eindruck von Realitätsechtheit zu erzeugen, müßte ein Rechner etwa 80 Mio. Bildpolygone rendern. Die genannten Computer bewegen sich zur Zeit bei etwa einem Hundertstel dessen.[33] Die Illusion wird mithin zur zentralen Beschreibungskategorie virtueller Bilder. Dies erscheint so evident, daß jüngst selbst Baudrillard, wenn er vom perfekten Verbrechen der Virtuellen Realität spricht, auf diesen Begriff — mit dem sich kunsthistorisch bedeutend effizienter arbeiten läßt — einschwenkt: "Es handelt sich um einen Wettkampf zwischen Illusion und Simulation." Und: "Ich mag auch nicht mehr von der Simulation sprechen. Ich bin ihrer überdrüssig geworden, ohne deswegen auf den Begriff der Wirklichkeit zurückkehren zu wollen. Deswegen finde ich jetzt den Begriff Illusion attraktiver."[35]

Die Virtuelle Realität bezeichnet die Suche nach einem Interface, welches eine Vielzahl von Sinnen möglichst unmittelbar und physiologisch unmerklich anspricht.[36] Je nahbarer die Interfaces sich körperintim an die Sinne schmiegen, wie etwa bei Osmose, desto ausgeprägter nicht nur die Gefahr, daß der unsichtbare Teil des technologischen Eisbergs seinem Anwender verschlossen bleibt, sondern desto intensiver vor allem die illusionäre Entgrenzung im totalen Datenraum, die Immersion. Die anvisierte Abtrennung aller Sinne vom Realen macht das Werk unvergleichbar mit der Umwelt, kaum mehr als objekthaftes Kunstwerk erfahrbar — denn alles ist Bild. Zunehmende Rechnerkraft erhöht das Suggestionspotential, das insbesondere erst durch die Ideologie des natürlichen Interface seine volle psychologisch-manipulative Wirkung entfalten kann. Die Auflösung des Interface ist mithin auch eine politische Frage. Nüchtern besehen, ist es die alte Manipulations- und Machttechnik ‘Brot und Spiele’ und ‘Teile und herrsche’, die in der Kombination Virtueller Realität mit dem involvierenden Aktivitätspotential des Spiels im modernsten technischen Gewand Erneuerung findet.

Für die Kunst gerät in den ‘belebten’ virtuellen Environments ein sehr fragiler Kernbereich in Bedrängnis: die Distanzgeste des Rezipienten, die eine kritische Reflexion erst ermöglicht. Je weiter die Auflösung der Interfaces und damit die illusionäre Entgrenzung mit dem Werk voranschreitet, desto stärker schwindet die psychologische Distanz. Es war Cassirer, der die geistig produktive, subjektkonstituierende Kraft der Distanz hervorhob,[37] welche einzig den "ästhetischen Bildraum" und den "logisch-mathematischen Denkraum" zeuge.[38] Im unmittelbaren Dasein des ‘allpräsenten’ Virtuellen jedoch vergeht jener Mechanismus der Erkenntnisschöpfung. Zwei Jahre später plazierte Warburg das Distanzparadigma, jenen "Grundakt menschlicher Zivilisation"[39] gar in die Einleitung seines Mnemosyne-Atlas'.

Möglicherweise fallen wir erneut in eine Beziehung zum Bild, die weit in dessen vorzivilisatorische Geschichte zurückgreift. Bildpotenzen, die eine psychische und physische Entgrenzung fördern und uns in einem regressiven Vorgang hinabtauchen lassen in meditative Stimmungen bis hin zur ekstatischen Verschmelzung von lebendigem Bild und Betrachter. Dann würden wir uns jener vorneuzeitlichen Grundbedeutung des Wortes ‘Bild’ nähern, wie sie etymologisch in seinem germanischen Stamm bil enthalten ist: Weniger war darin ein Bewußtsein von Bildhaftigkeit eingelagert, vielmehr — bislang kaum beachtet — bezeichnete ‘Bild’ etwas im belebten Sinne Wesenhaftes, war krafterfüllter Gegenstand, dem eine irrationale, magische, ja geisterhafte Zauberkraft innewohnte, die sich vom Betrachter nicht fassen oder beherrschen ließ.[40]

Die Erinnerungsfunktion des Kunstwerks scheint sowohl durch offene interaktive Systeme als auch durch das Immersionskonzept Virtueller Kunst gefährdet. Wie auch immer man zum ästhetischen Erleben virtueller Bilder stehen mag, der Seismograph Kunst signalisiert frühzeitig gesellschaftskulturelle Konsequenzen der Medienrevolution. Der Avantgarde, die Kunst und High-Tech verbindet, öffneten sich in den USA und Japan mittlerweile auch renommierte Ausstellungshäuser. Eine Avantgarde, die nicht in der Figur von Verweigerung und Provokation auftritt, sondern inden Laboren Fakten schafft: Bilder totalisiert, interaktiv begehbar macht, evolutionär ‘belebt’ und somit eine tiefgreifende kulturelle Metamorphose ausmißt — analog vielleicht dem Strukturwandel unserer Industriegesellschaft in eine anscheinend von globalen Spielern gelenkte Informationsgesellschaft. Die Popularisierung dieser Kunst steht noch bevor, vorausgehen wird der Ausbau der Netzwerke zu schnellen, breiten Datenautobahnen.

Der Werkbegriff in seiner historischen Emphase mag gestört sein, die Einfriedungen werden neu gelegt oder ganz durchbrochen — es ist somit wichtig, neben neuen Möglichkeiten auch Verlustgrößen zu kennzeichnen, eine intensive wissenschaftliche und breite öffentliche Auseinandersetzung ist dringend notwendig. Wenn das Museum der Ort ist, an dem gesellschaftliche Entwicklungen sichtbar, interpretierbar und mithin vielleicht auch ein wenig beherrschbar gemacht werden, dann sollten sich Museen auch aus diesem Grund der digitalen Bildkultur öffnen. Am Ausgang dieses Jahrhunderts vermag dem raschen gesellschaftlichen Wandel nur eine Kombination aus Material und Immaterial gerecht zu werden. Als ausschließliches Substitut tradierter Materialkunst scheinen diese Werke jedoch wenig geeignet. Wir liefen sonst einem Zustand entgegen, der kulturelles und soziales Vergessen nicht durch Bilderstürme oder Herrscherzensur erzwingt, sondern technologisch festlegt.

Notes


1. Vgl. Ivan E. Sutherland: A head-mounted three dimensional display. In: AFIPS Conference Pro-ceedings 33, Part I: Proceedings of the Fall Joint Conference. 1968, S. 757-764. 1965 noch kreisten Sutherlands Gedanken um ein Display, welches, wie durch ein Fenster, in eine Virtuelle Welt blicken läßt. Noch nicht durch das Stereoskop inspiriert, dachte er in der albertischen Kategorie des Fensters. Vgl. Ders.: The Ultimate Display. In: Proceedings of the IFIP Congress 1965. New York 1965, Bd. 2, S. 506-508.
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2. Einen Überblick versuche ich in: Into the Belly of the Image: Art History and Virtual Reality. Vortrag, gehalten am 24.9.1997 im Art Institute in Chicago auf dem Eighth international Symposium on Electronic Art; auch: Oliver Grau: An Historical Approach to Virtual Reality. In: CAIIA: Consciousness Refraimed. Conference Proceedings. Hrsg, von Roy Ascott Newport 1997, S. 150-163.
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3. Siehe: http://www.softimage.com/Softimage/Content/Projects/Osmose [ed. link defunct, last visited 23.09.2017]. Zu diesem Werk u. a.: Steven Porter: Journey into VR. In: Computer Graphics World 16, Nr. 10 (1996), S. 59-60; Margaret Wertheim: Lux Interior. In: 21C, 4 (1996), S. 26-31; Virginia Rutledge: Reality by Other Means. In: Art in America (Juni 1996), S.39; Eric Davis: Osmose. In: Wired 8 (1996), S. 138-140 und 190-192; Char Davies und John Harrison: Osmose: Towards Broadening the Aesthetics of Virtual Reality. In: Computer Grafics 30, Nr. 4 (1996), S. 25-28; sowie Peter Lunenfeld: Char Davies. In: Art + Text 53 (1996), S.82—83. Kritisch: Bureau of Inverse Technology (BIT): Osmose. In: Mute Digitalcritique 3 (Herbst 1995), S.13.
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20. Maurice Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire. Paris 1925.
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21. Wolfgang Thierse: ‘Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat.’ Problemgeschichtliche Beobachtungen zur Geschichte des Werkbegriffs. In: Ästhetische Grundbegriffe: Studien zu einem historischen Wörterbuch. Hrsg, von Karlheinz Barck u.a. Berlin 1990, S. 397
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22. John Dewey: Art as Experience. 1934. In: The late Works. Hrsg, von Jo Ann Boydston. Carbondale und Edwardsville/Ill. 1987, Bd.10, S.8.
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23. Söke Dinkla sieht die Interaktive Kunst in der Tradition der klassischen Avantgarde, etwa im Variety Theatre Manifest von Marinetti und den Appellen zur Partizipation von Max Ernst vom Beginn der zwanziger Jahre. Vgl. Dies.: Pioniere Interaktiver Kunst. Ostfildern 1997, S.25.
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24. Vgl. Andreas Zell und Ralf Hübner: Low-Cost 3D-Visualisation of Neural Networks. In: Virtual Reality '94: Anwendungen und Trends. IPA/IAO-Forum 9.-10.2.1994. Kongreßakten. Hrsg, von Hans-Jörg Bullinger. Berlin 1994, S. 164.
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25. Vgl. Douglas E. Holmgren: Scanned Laser Displays for Virtual Reality: A Feasibility Study. In: Presence 2, Nr. 3 (1993), S. 171-184.
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26. Materialität - will man den Begriff in diesem Zusammenhang verwenden - beschränkt sich auf einen jedem Bildpunkt, dem Pixel, zugeordneten Schaltzustand des Computers. Ein materiehafter Charakter des Kunstwerkes existiert in der Virtual-Reality-Ästhetik nicht mehr.
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27. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 1795, insbes. 15. und 23. Brief.
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28. Johann Huizinga: Homo Ludens: Versuch einer Bestimmung des Spielelements der Kultur. 1938. Reinbek 1987.
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29. Vgl. Peter Weibel und Gerhard J. Lischka: Polylog: Für eine interaktive Kunst. In: Kunstforum International 103 (1989), S. 65-86; Florian Rotzer: Ästhetische Herausforderungen von Cyberspace. In: Raum und Verfahren. Hrsg, von Jörg Huber. Basel 1993, o.S.; Itsuo Sakane: Durch Interaktive Kunst zur Selbsterkenntnis. In: Künstliche Spiele. Hrsg, von Florian Rotzer u. a München 1993, S. 91-94.
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30. Eine Kunst der Interaktion würde - so Weibel - den Vereinnahmungs- und Machtprozessen des Apparats aus Kunsthandel, Sammlern, Kuratoren und Kritikern widerstehen und als "dynamische Kunst [...] die Parameter der klassischen Kunst grundlegend Umstürzen und umformen [...], in Synergie mit technischen, territorialen, politischen und sozialen Umwälzungen." Peter Weibel: Transformationen der Techno-Ästhetik. In: Rotzer (Hrsg.), Digitaler Schein (Anm.9), S. 245 f.
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31. Vgl. Vilem Flusser: Gesellschaftsspiele. In: Kunstforum International 116 (1991), S. 67 Flusser ist der Auffassung, man könne die Spielerkompetenz quantifizieren: Auf "einer hic et nunc erfundenen Skala" von 0 bis zum maximalen Wert 1 schreibt er Bach einen Wert von 0,85 zu. Das Dilemma dieses Denkens, das auf die Numerische Ästhetik zurückgeht, machte bereits Arye Levavi: Kunst und Unendlichkeit. Frankfurt/M. 1977, S. 70 deutlich.
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32. Wertvolle Denkanstöße für den Fortgang der Memoria-Debatte bietet Gunnar F Gerlach: Unter Einschluß neuerer Erkenntnisse aus Neurobiologie, Psychologie usw. schlägt er ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur Entwicklung einer Engrammatologie in der Folge der synthesebildenden Ikonologie vor. Vgl. Ders.: Erinnerungsbild und Gedächtnisraum — Erste Ideen-Skizze zu einer Engrammatologie in Kunst und Architektur. In: Architektur der Ideen. Hrsg, von Ludwig Seyfarth. Wien und Hamburg 1994, S. 37-40.
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33. Vgl. Ken Pimentei und Kevin Teixeira: Virtual Reality: Through the new looking glass. New York 1993, S. 105. Die von vielen Labors eingesetzten SG-Workstations rendern gerade 350000 Polygone pro Sekunde. Vgl. Virtual Reality Systems. Hrsg, von M. A. Gigante u. a London 1993, S. 16.
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34. Florian Rötzer im Gespräch mit Jean Baudrillard: Illusion, Verführung und Simulation. In: Netzzeitschrift Telepolis (April 1995), S. 2 (Interview auf deutsch).
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35. Ebd.
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36. Vgl. Mel Slater u.a: Depth of Presence in Virtual Environments. In: Presence Teleoperators and Virtual Environments 3, Nr. 2 (1994), S. 130-144 (MIT); sowie David W. Schloerb: A Quantitative Measure of Telepresence. In: Presence Teleoperators ... , ebd., 4, Nr. 1 (1995), S. 64—80; ebenfalls: Woodrow Barfield u.a: Comparison of Human Capabilities with Technical Specifications of Virtual Environment Equipment. In: ebd., 4, Nr. 4 (1995), S. 329-356, usf.
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37. Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Teil 1.1923. Darmstadt 21953, ND 1994, S. 138; Teil III. Darmstadt 21954, ND 1994, S. 358 f. Die Distanz variiert entsprechend der psychologischen Distanzierungskraft des Individuums und dem Charakter des betrachteten Objekts.
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38. Vgl. Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. 1927. ND Darmstadt 1994, S. 179.
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39. Aby Warburg: Einleitung zum Mnemosyne-Atlas. In: Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache der Kunst. Hrsg, von llsebill Barta Fliedl und Christoph Geissmar. Salzburg und Wien 1991, S. 171-173.
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40. Die wohl umfassendste Untersuchung - wenn auch seitens der Bildforschung kaum zur Kenntnis genommen - stammt von Alfred Wolf: Die germanische Sippe ‘bil’: Eine Entsprechung zu Mana. Mit einem Anhang über den Biiwis. In: Uppsala Universitets Årsskrift. Uppsala 1930, S. 18—56.
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